Rezension: Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm! Über die Zukunft der Musik- und Medienindustrie
Bielefeld (mun). Das Buch kann jungen Musikern nur wärmstens empfohlen werden. Der Autor versteht es – mit ausgesprochenem Insider-Blick, aber locker-flockigem Schreibstil – alles Wichtige rund um die Rockmusik und Popularmusikbranche anzusprechen. Vor allem die technischen Innovationen (Einführung der CD, MP3-Format, Internet, CD-Brenner etc.) werden jeweils mit Rückblick auf die maßgeblichen Entwicklungsschübe in den letzten 25-30 Jahren – auch mit Blick auf die wichtigsten Leute, die dafür standen und stehen – in Erinnerung gerufen. Sehr gut gelungen sind auch die Abrisse zu neuen Musiksendungen und TV-Formaten sowie den Vermarktungsstrategien bis hin zu Manipulationsmöglichkeiten der Charts. Man merkt Tim Renner, der unter anderem Producer von Element of Crime war, an, dass er – trotz mancher sicherlich ernüchternder Erfahrung als Top-Manager bei Polydor – immer ein Enthusiast, Musikliebhaber und Visionär geblieben ist.
Natürlich gibt es auch ein „aber...“ an solch einem Buch. Tim Renner will ein konstruktiver Kritiker der gesamten Branche mitsamt ihrer Auswüchse sein, jedoch kein Revolutionär. Er sagt nicht: Die ganze Kommerzscheiße und Kapitalabhängigkeit der Rockmusik müsse beseitigt werden. Vielmehr will er innerhalb des Systems Verbesserungsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven ausloten. Das Problem bei einer so angelegten Form der Kritik ist, dass viele Dinge lediglich aus der Binnenperspektive bewertet werden. Den ehemaligen Musikmanager dürfte allerlei im Showbiz gestört haben und das spricht er auch offen an. Aber was einen Insider stört, muß nicht zwangläufig auch negative Auswirkungen für den Kunden/Endverbraucher haben, der eine CD kauft.
Wenn beispielsweise Polydor oder ein anderer großer Musikkonzern den rüden Preisdruck, den die Händler von Saturn/Media-Markt ausüben, nicht aushält und Pleite geht, ist das für die Anteilseigner des Konzerns und dessen Beschäftigte zwar bitter. Aber für den CD-Kunden dürfte es ziemlich belanglos sein, ob 7-8 Majorlabels oder nur 4-5 den Markt beherrschen.
Ebenso verhält es sich mit den Wachstumsziffern der Plattenindustrie. Wie jedes Kapital in jeder Branche wünschen sich die Besitzer und Aktionäre der Musikkonzerne natürlich möglichst hohe Zuwachsraten – sprich Gewinne. Die zahlungsfähige Nachfrage auf dem Weltmarkt scheint aber heute an ihre Sättigungsgrenzen zu stoßen. Eine nennenswerte Ausweitung der Gesamtumsätze der Musikindustrie steht augenblicklich wohl nicht mehr in Sicht. Daher drehen sich Konkurrenz und Preiskampf der Konzerne verstärkt um möglichst große Anteile am „Kuchen“ – es ist also ein scharfer Verdrängungswettbewerb im Gange. Global kann der „Kuchen“ sogar kleiner werden, wenn die Branche durch Internetbörsen wie Napster (und die diversen Nachfolger) insgesamt Umsatzeinbußen von 10% und mehr Prozent in den vergangenen Jahren zu verzeichnen hatte. Aber das sind - wie gesagt - die Probleme der Leute, die durch den Verkauf von Popularmusik eine wachsende Kapitalrendite erzielen, sprich viele Dollars verdienen wollen, jedoch nicht unbedingt die Probleme des Endkonsumenten als CD-Käufer.
Für den Endkonsumenten wäre es allenfalls negativ, wenn CDs noch teurer werden würden, wenn das Material schlechter und kürzer haltbar wäre (wegen technischer Einsparungen), und wenn die Auswahl des musikalischen Angebots geringer und weniger vielfältig ausfallen würde. Solche negativen Tendenzen vermag ich aber nirgendwo festzustellen:
1. Das Preisniveau bei Neuerscheinungen ist mit normalerweise 12.90 – 16.90 € seit Jahren relativ stabil. Einige Bands wie kürzlich etwa Within Temptations experimentieren sogar mit drei unterschiedlichen Preiskategorien sofort vom ersten Verkaufstag an: 17.90 € mit umfassendem Booklet und Superverpackung, 12.90 € mit verdünntem Booklet, 9.90 € nur die CD in einfacher Box.
2. Dass das technische Material der CDs schlechter werden würde, ist mir noch nicht aufgefallen.
3. Die Breite der Auswahl finde ich heutzutage geradezu spektakulär. Ich suchte neulich zufällig eine alte klassische Aufnahme: Das Violinkonzerts d-dur Op. 54 von Bethoven gespielt von Wolfgang Schneiderhahn (Geige) und dirigiert von Wilhelm Furtwängler aus dem Jahre 1954! Kein Problem, selbst ein kleiner Plattenladen nördlich von Kiel konnte mir die CD innerhalb von 48 Stunden für sage und schreibe 6.90 € besorgen.
Bei der von mir persönlich bevorzugten Rockmusikrichtung, dem Heavy Metal, gibt es heute zahllose Unterszenen: Gothic, Black Metall, Industrial, Mittelalter, Thrash, Alternative Rock etc.pp. Für alle gibt es spezielle Fachzeitungen wie Metal Hammer, Orkus, Zillo, Legathy usw. Man ist also bestens informiert über Neuerscheinungen und bekommt selbst kleinstauflagiges Material in der Regel problemlos und schnell.
Vielleicht nicht überall in OWL sofort. Aber wenn ich in Bielefeld eine CD nicht gleich bekomme, dann doch beispielsweise im Szene-Plattenladen Ween normalerweise innerhalb von einer Woche. Das gilt selbst für ausgefallenste Bands mit vermutlich kaum mehr als 2.000er Albenauflagen. Von den Stars der populären Rockmusik wie beispielsweise U2, Depeche Mode, Nirvana gibt es oft das gesamte Repertoire zu spektakulären Schnäppchenpreisen von 6.90 € pro CD.
Was soll damit gesagt sein? Die Industrie als solche funktioniert aus Sicht des Endverbrauchers prima. Selbst kleinste Zielgruppen werden bedient, das Angebot ist groß und vielfältig. Ob die Branche insgesamt an Kapitalverwertungsschwierigkeiten, schrumpfendem Gewinnwachstum oder verschärfter Konkurrenz leidet, ob irgendwelche Manager vorzeitig an Herzinfarkt oder Magengeschwüren zugrunde gehen, dürfte mich als Konsument kaum tangieren - solange das Angebot darunter nicht leidet. Das ist aber nicht der Fall. Ich kommen heute problemlos an so gut wie jede interessante Aufnahme von irgendwo auf der Welt, jedenfalls viel einfacher als noch vor 10 oder gar vor 20 Jahren. „Ausreißer“ wäre da höchstens einmal ein gänzlich exotischer Titel irgendeiner Kellerband aus New Orleans anno 1929.
Natürlich wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn die CDs noch preiswerter werden würden. Soweit ich mich erinnere, lag das durchschnittliche Preisniveau populärer LPs (Vinyl), bevor die Plattenproduktion von der CD-Produktion abgelöst wurde, bei ca. 16 Mark, also bei 8 €.
Möglicherweise ist durch spezifische Promotionsmechanismen bei TV-Sendern wie VIVA und MTV das Angebot etwas eingeschränkt, weil dort ständig nur die 75 hitverdächtigen Clips der internationalen Charts rauf- und runter genudelt werden. Sicherlich würde man sich als Hard-Rocker oder Metal-Fan mehr Paradise Lost, Nightwish, Cradle of Filth, Type O’Negative, Rammstein, Metallica und so weiter in TV- und Radioprogrammen wünschen. Aber ein echtes Leiden an zu wenig Musikangeboten für diese speziellen Geschmacksrichtungen kann ich beim besten Willen nicht feststellen.
Fazit: Was Tim Renner an der Musikindustrie, ihren Vermarktungsstrategien und Zukunftsaussichten zu kritisieren hat, wird nicht so richtig griffig – zumindest nicht aus Sicht des Konsumenten. Ich habe mich am Ende des Buches, angeregt durch dessen kritischen Jargon, gefragt: Wo liegen überhaupt etwaige Knackpunkte? Die Antwort darauf gibt der Autors aus seinem Blickwinkel, aber für den Konsumenten stellt sich vieles nur halb so schlimm dar.
Diese kritischen Anmerkungen des Rezensenten mindern aber nicht wirklich den Wert des Buches. Es vermittelt für den Preis von 19.80 € einen wirklich profunden Blick hinter die Kulissen des Musikgeschäfts. Für Musiker ist es eine wahre Fundgrube an Hintergrundinformationen über Schallplattenfirmen, A & R Management und künftige technische Innovationen der Branche.
Bibliographische Daten: Tim Renner: Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm! Über die Zukunft der Musik- und Medienindustrie; Campus-Verlag, Frankfurt/New York 2004, ISBN 3-593-37636-9, 303 Seiten, 19.90 €
10.01.2007 23:41